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Karl Heinrich Ehrenforth zur Situation der Rhythmik


Grazyna Przybylska-Angermann - 
Rhythmik als Prävention in der Musikerausbildung
Reinhard Ring - Rhythmik - das Spezielle daran
Symposium "Die Identität der Rhythmik", Biel 1996
Silvia del Bianco/ Paul Hille
Reinhard Ring/ Marie-Laure Bachmann
 
Karin Jehrlander - Fünfertakte
Annette und Moritz Hartung - Rhythmik in ehemaligen Kriegsgebieten - Musiegt in Bosnien

 

Auf der Suche nach einer neuen Legitimation der alten Rhythmik

Karl Heinrich Ehrenforth entwickelte Gedanken zur historischen Leibentfremdung als Signum europäischer Geistesgeschichte und machte dann kritische Anmerkungen zu Jaques-Dalcroze und der Fachgeschichte. Schließlich folgten einige Empfehlungen zur Konzeptualisierung der Rhythmik und wie diese politisch umgesetzt werden könnten.

Man sollte sich dabei im Klaren sein, dass ein solcher Prozess mindestens zwanzig Jahre in Anspruch nehmen dürfte.

Nach Überlegungen zur christlichen Leib-Geist-Seele-Problematik und deren Überwindung folgerte Ehrenforth mit dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty ...

Der Leib sei weit mehr als ein instrumentaler Körper und Diener des Geistes ...

... und ...

Freilich wäre es nicht akzeptabel, einen überholten leibfernen Objektivismus von einst nun einfach wieder durch einen leibnahen Subjektivismus zu ersetzen.

Jaques-Dalcroze habe zwar ein Gespür für den Zeitgeist gehabt, jedoch weder Nietzsche noch Bergson noch Dilthey in den Zeugenstand gebeten. Es blieb bei Jaques-Dalcroze bei einer etwas selbstgestrickten Emphase, die Lesern von heute kaum mehr verständlich ist. Ehrenforth mochte vermeiden, dass Dalcroze zu einem Denkmal unkritischer Verehrung würde, trotz dessen historischer Bedeutung:

Nun ist es das unbestrittene Verdienst von Dalcroze, die Chancen einer musikalischen Bewegungserziehung hellsichtiger und auch überzeugender als die Kunsterziehungsbewegung selbst erkannt zu haben. Freilich war der Zug, auf den er aufgesprungen ist, schon eine Weile in Fahrt.

Dazu gehörten sowohl die Bewegungsrevolutionen des Wiener Walzers und des New-Orleans-Jazz als auch verschiedene reformpädagogische Impulse.

Im Grunde ist diese Spannung bis heute geblieben: eine mehr apollinische Bewegungsästhetik steht der dionysischen Entrückung gegenwärtiger Disco-Kultur gegenüber. Auch diese Spannung ist für die Zukunft des Faches im Blick zu behalten.

Bei konzeptionellen Fragen der Rhythmik und einer angemessenen Strategie der politischen Umsetzung warnte Ehrenforth vor falschem Traditionsbewusstsein, das sich mit Hellerau verbinde. Hellerau hatte einmal für eine europaweite Resonanz gesorgt, wurde zum Symbol der Rhythmik-Fachgeschichte.

Das kann und soll man nutzen.

Aber man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss und ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Rhythmik auf der Grundlage eines politisch überzeugenden Konzepts müsste neu erarbeitet werden. Der Weg, den Ehrenforth nannte, beginnt mit interner Verständigung über das Berufsbild der Rhythmik und führt über Überlegungen zu den Studiengängen und einer Strategie der politischen Umsetzung des Konzepts. Beachtenswert ist die Reihenfolge: Aus Berufsverständnis und Konsensbildung folgt die Strategie - nicht umgekehrt!

Von einer Hochschulkollegin gewarnt, die Rhythmiker würden sich nie einigen, jeder habe seine eigene Vorstellung von Rhythmik, forderte Ehrenforth, dass gerade dieser Diaspora-Status des Faches überwunden werden müsse.

Ulrich Mahlert folgend (siehe Mahlerts Vortrag auf der BRE-MV in Weimar 1999, später abgedruckt in Üben und Musizieren 1/2000) forderte auch Ehrenforth künstlerisch- pädagogische  Identität und Unverwechselbarkeit. Zur Zeit komme  es aber vor allem darauf an, das Fachverständnis aus der subjektiven Vielfalt in eine nachvollziehbare Eindeutigkeit zu führen. Dabei riet er dringend, einer laienorientierten Pädagogik verpflichtet zu bleiben und nicht nach künstlerischen Weihen zu schielen. Er äußerte Bedenken gegenüber dem Versuch, die Rhythmik dadurch hoffähig zu machen, dass man ihr künstlerische Reifeprüfungen oder gar Bühnenexamen zumute. 

Die heute hochentwickelte Ballett- und Performancekunst wäre eine ungewollte und schädliche Konkurrenz, die den berechtigten Eigenanspruch des Faches Rhythmik auf eine falsche Ebene abzudrücken droht. 

Insbesondere, um die oft beklagte Zerfaserung des Faches halbwegs im Griff zu halten, empfahl er eine seriöse Berufsdarstellung und zeigte am Bewerbungsbeispiel eines omnipotenten Rhythmikers, welche Behauptungen nicht Ernst genommen würden. 

Er verlangte von den Rhythmikern einen eigenen fachtheoretischen Untergrund mit bildungs- und hochschulpolitischer Präsenz. Hierzu gehöre auch sprachliche Deutlichkeit. Dann könne es gelingen, die eigene Fachschaft zu sammeln und einen Grundkonsens zu erarbeiten, mit dem man in die politische Arena steigen kann.  

Nichts ist schädlicher, als den ungelösten Streit in die Öffentlichkeit zu tragen und sich dann der lähmenden Häme auszusetzen: "Die wissen selber nicht, was sie wollen!" 

Stattdessen müsse der Grundkonsens zunächst als interner Diskurs Vertretern humanwissenschaftlicher Disziplinen und den Schwesterdisziplinen der Musikpädagogik  vorgelegt werden. Außerdem forderte er Niveau: 

Die fachübergreifend denkende Professionalität im eigenen Fach sollte so gefördert werden, dass die interdisziplinären Diskurse auf halbwegs angemessener Augenhöhe stattfinden können. 

Ehrenforth, der die Wichtigkeit von Rhythmik-Ausbildungen an Musikhochschulen unterstrich, fasste zusammen: 

Eine musikalische Bewegungserziehung hat große Chancen, wenn sie den Mut hat, sich auf ein unverwechselbares und nur ihr erreichbares Berufsprofil zu verständigen.

Prof. Dr. Karl Heinrich Ehrenforth, ehemaliger Dekan der Musikhochschule Detmold und Bundesvorsitzender des Verbandes Deutscher Schulmusiker (VDS) sprach am 9. März 2002 beim Rhythmiksymposium an der Hochschule für Musik Carl Maria von Webern in Dresden.
Nebenstehend Gedanken und Zitate aus seiner Rede.

 

Anfragen wegen eines Manuskriptes bitte an:  
Prof. Dr. Karl Heinrich Ehrenforth Klosterbergenstraße 46a D-21465 Reinbek