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Marie-Laure Bachmann / Reinhard Ring - Jaques-Dalcroze und sein Erbe

Symposium "Die Identität der Rhythmik", Biel 1996
Silvia del Bianco/ Paul Hille
 
Karl Heinrich Ehrenforth zur Rhythmik
Grazyna Przybylska-Angermann - 
Rhythmik als Prävention in der Musikerausbildung

 

Reinhard Ring - Rhythmik - das Spezielle daran
Karin Jehrlander - Fünfertakte
Annette und Moritz Hartung - Rhythmik in ehemaligen Kriegsgebieten - Musiegt in Bosnien

1935/ 1995

 

1935 ist Emile Jaques-Dalcroze 70 Jahre alt. Er leitet seit zwanzig Jahren sein Institut in Genf (und wird ihm fast bis zu seinem Tod, 15 Jahre später, vorstehen). Den zwanzig Jahren in Genf sind vier für ihn und für uns alle bedeutungsvolle Jahre vorangegangen: die vier Jahre nämlich, die Jaques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden verbrachte und auf die ich noch zurückkommen werde. Aber schon ungefähr 15 Jahre früher hatte Jaques-Dalcroze begonnen, die Hauptzüge seiner Rhythmiklehre herauszuarbeiten und in seinem Umkreis, in der Schweiz und im Ausland, bekanntzumachen, hauptsächlich durch Vorführungen, Kurse, Vorträge und einige grundlegende Aufsätze.

1935 ist die Rhythmik also schon 40jährig. Ich möchte aus zweierlei Gründen auf dieses Jubiläum zurückkommen:

 

I° Noch in voller Schaffenskraft und wie eh und je auf der Suche nach Weiterentwicklung seines Werks verspürt Jaques-Dalcroze das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und eine Bestandesaufnahme der Rhythmik vorzunehmen. Ein umfangreicher Aufsatz, den er eine “Kleine Geschichte der Rhythmik" nennt, gerät zu einer Art Testament zu Lebzeiten. Jaques-Dalcroze selber – wir kennen ja seinen Humor – möchte dies offensichtlich auch so verstanden wissen. Wir lesen in der Einleitung sinngemäss:

 

“Im allgemeinen befassen sich die Zunft der Kritiker und das geneigte Publikum erst nach seinem Tod mit dem Werk eines Autors. Manchmal muss der Tote sich sogar hundert Jahre gedulden, bis man geruht, sich für sein künstlerisches Vermächtnis zu interessieren. Heute komme ich mir, nachdem ich älter geworden bin und jedermann das auch weiss, fast vor wie schon ein wenig gestorben, und ich habe mich daher entschlossen, zu Ihnen über meine pädagogische Arbeit zu sprechen. Ich hoffe damit falschen Interpretationen vorzubeugen, mit denen pedantische Kritiker, konfuse Psychologen, ein nur oberflächlich eingeweihtes Publikum und überhaupt alle diejenigen, die lauter respektable Leute – mit meinen Gedanken nicht vertraut sind und meine Erfahrungen nicht teilen, nach meinem wirklichen Tod zweifellos nicht sparen werden.”

 

Wer vom Testament spricht, spricht vom Erbe! Mein heutiges Expose bezieht sich daher hauptsächlich auf den ”Testamenttext” von Jaques-Dalcroze.  

2° Aus einigen Passagen der “Kleinen Geschichte der Rhythmik” schliesse ich mit allem Respekt, dass sich die Rhythmik schon 1935 in einer ähnlichen Lage befand wie heute, wo sie schon ein Jahrhundert alt ist! Sie ist schon so lange lebendig, dass sie sich weltweit in verschiedenen Ausprägungen ausbreiten konnte. Teils hat sie den Namen ihres Schöpfers beibehalten, teils hat sie ihn aufgegeben oder durch den Namen neuer Interpreten ersetzt. Rhythmik hat die Zeit – und das Zeug dazu – gehabt, in den verschiedensten Zweigen des Bildungssystems, in Musikschulen, in öffentlichen Schulen, in der Behindertentherapie, in den Bühnenkünsten Wurzeln zu fassen... Ein wesentlicher Unterschied allerdings zwischen damals und heute: Jaques-Dalcroze ist 1935 noch selber tätig und kann sich selber zur Frage der Identität seines Werks äussern. Er ist der erste und vielleicht auch der einzige–der darunter leidet, die Eigenständigkeit seiner Rhythmiklehre gefährdet zu sehen.

 

 

Die Kunst zu erben


Die Ausgangsüberlegung für mein Referat heißt: Was kann die Rezeption der Ideen und des Werkes von E. Jaques-Dalcroze zu Berufsbildfragen der Rhythmiklehrer/innen heute beitragen? Wer erbt, kann auf den Verdiensten des Beerbten aufbauen, muß aber auch seine "Schulden" übernehmen. Es macht die Größe einer Persönlichkeit aus, wenn ihre Ideen diskutiert und sie immer wieder aktualisiert werden. Auf keinen Fall kann erben heißen, "die Tradition festschreiben" denn "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme" (Jean Jaurès).
Obwohl unsere Fragestellung auf das Wirken einer Persönlichkeit zielt, gehört zur Frage nach ihrem Erbe auch die Betrachtung ihrer Zeit und ein Verständnis davon, wie sie auf die Erfordernisse der Zeit reagiert hat. Dies ist insbesondere wichtig, wenn wir darauf kommen, welche Fragen sich heute stellen und wie wir heute darauf reagieren. Jaques-Dalcroze' Methode ist zu verstehen als sein Gegenmodell zu einer katastrophalen Musikerziehung, die aus äußerlicher Abrichtung und keinerlei Entwicklung von innerer Musikalität bestand. Daher waren seine Thesen, die er auf dem Solothurner Schulmusikkongreß 1905 vorstellte, so wirkungsvoll. Er forderte Musikerlebnis: der Musikunterricht solle bewirken, daß "das Kind sich danach sehnt, Musik zu hören" und das ihm der Gesang "ein selbstverständliches Bedürfnis" wird. Und sein Lösungsmodell bestand in diesem einzigartigen Zusammenwirken von Bewegungs- Stimm- und Improvisationsübungen. In unserem zeitlichen Rahmen hier ist es leider nicht möglich, die großen Verdienste und Ideen von E. Jaques-Dalcroze zu würdigen. Hier geht es um die Situation der Rhythmik heute. Ich rufe den Ausgangspunkt nur noch einmal in Erinnerung, um auf die heutige Situation zu kommen.
Ohne die Musikpädagogik an Konservatorien und Musikschulen zu beschönigen, der Anspruch der Musikpädagogen anderer Abteilungen unterscheidet sich nicht mehr so sehr von dem unserigen, auch wenn sich unsere Methode noch deutlich unterscheidet. Jaques-Dalcroze traf auf eine Umbruchsituation nicht nur in Wissenschaft und Politik. Auch in der Musikpädagogik bildeten sich Reformmodelle heraus. Heute leben wir wiederum in einer bildungspolitischen Umbruchsituation zu der sich immer mehr das Pathos der Jahrtausendwende gesellt.
Heute stellen sich folgende Aufgaben: Die Eigeninitiative und das Bewegungsgeschick der Menschen zu fördern, ist noch stärker als zu Jaques-Dalcroze' Zeit eine wichtige kulturpolitsche Aufgabe. Die Wahrnehmungsfähigkeit, schon der Kinder, wird immer stärker eingeschränkt. Autoritätsverlust, Desorientierung, Egozentrismus usw. verhindern das gemeinsame künstlerische Tun.
Die Zielsetzung und die Methode der Rhythmik, über ein intensives Musikerleben mit Leib und Seele den Menschen zu fördern, sind heute wie damals gültig. Heute erfordert allerdings das Erreichen dieses Zieles eine andere Intensität der Methode als früher. Wir müssen den Menschen, vor allem den Jugendlichen und Kindern mit frischen musikalischen und immer wieder neuen Bewegungsideen kommen, anderen als zu Jaques-Dalcroze' Lebzeiten, aber von seiner Phantasie können wir uns durchaus anregen lassen, denn "... Jaques-Dalcroze war wesentlich ein Lebendiger, ein ununterbrochen Schöpferischer ... er war ohne Unterlaß dabei zu erfinden zu erfinden" (Frank Martin).
Wenn wir E. Jaques-Dalcroze, in aller Verehrung, kritisch beleuchten und ihn nicht als unantastbaren Übervater sehen, können wir aus seinen Ideen zahlreiche Anregungen schöpfen.
Einige Worte müssen jedoch auch gesagt werden zu einer Form der Jaques-Dalcroze-Rezeption, die einer künstlerischen und wissenschaftlichen Haltung widerspricht, so wie uns bei manchen Anhängern der Anthroposophie die Meistertreue abschreckt, der Begründer der Eurythmie wird z. T. völlig falsch "beerbt", wir sollten den Begründer der Rhythmik kritisch beerben, ohne eine Weltanschauung daraus zu machen.
Die Polarisierung zwischen Dalcroze- und Nicht-Dalcroze- Rhythmik kann ebenfalls gefährlich sein. Zunächst klingt es sehr praktisch - hie Jaques-Dalcroze (musikalisches Handwerk), da Scheiblauer (sozial) oder Feudel oder die Laxenburger Abweichler. Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Tode E. Jaques-Dalcroze' wird sich die Öffentlichkeit wenig für diese Polarisierung interessieren. Zum Teil werden die Gegensätze auch konstruiert. Es wird zum Beispiel behauptet, Mimi Scheiblauer hätte keine Dalcroze-Rhythmik gelehrt. In dem Zürcher Seminar hat sie jedoch eine äußerst konservative, am musikalischen Handwerk orientierte Rhythmik gelehrt. (Berühmt geworden ist sie allerdings durch ihre Weiterentwicklung für die Heilpädagogik.) Sie hielt sich an das, was ihr Meister ihr immer gesagt hat: Daß es wichtig sei, seine Ideen immer weiterzuentwickeln. Jaques-Dalcroze hat gesehen, daß Scheiblauer besondere Wege ging und hat ihr nach einem Besuch seine Anerkennung ausgesprochen. Wenn wir in der Öffentlichkeit von "Dalcroze-Rhythmik", "Scheiblauer-Rhythmik" usw. sprechen, verwirrt das nur. Den ersten Schritt, den wir schaffen müssen, ist, die Öffentlichkeit von unserem Verfahren insgesamt zu überzeugen. Dann können vielleicht Differenzierungen kommen. Zur Zeit interessiert die Öffentlichkeit mehr der Unterschied zwischen verschiedenen Modellen der musikalischen Grundausbildung/Musikalischen Früherziehung und der Rhythmik als der zwischen Scheiblauer und Jaques-Dalcroze.
Auf die zusätzliche Gefahr, die in diesen internen Separierungen liegt, hat in einer Rundfunksendung Daniel Reichel hingewiesen:"... ce terme de Dalcrozien mis des barrières n'est-ce pas? On s'enferme, une secte - non quel horreur! Ce n'est pas ça. ... défendre une idée dalcrozienne contre d'autres personnes ...les gens voulaient toujours séparer tout."
Benutzt man die Kurzform "Dalcroze", muß man auch verstehen, was mit der Wortbedeutung geschieht, wenn ein Name zu einer Methode wird. Von dem Moment an handelt es sich um mehr, als um das Denken einer einzelnen Persönlichkeit, die vielleicht den Namen gegeben hat. Er ist nicht mehr zu gebrauchen im Sinne "wie es Jaques-Dalcroze wollte", was unweigerlich zur Ideologie führt, eher wird der Name Dalcroze eine Unterscheidungshilfe: Ein Kurzwort für das von E. Jaques-Dalcroze und anderen Entwickelte. Auch Phänomene, die den Namen von Personen tragen, entwickeln sich weiter.
Wenn wir also nicht dadurch erben, daß wir die Rhythmik traditionalistisch festschreiben, sondern indem wir das Erbe produktiv forttragen, kann das nicht heißen, daß wir den Namen Jaques-Dalcroze gerade so benutzen, wie es uns paßt. Wir evaluieren die Grenzen, Stärken und Schwächen, um die Methode zu verstehen. Da wäre zum Beispiel die Art und Weise der Ausführung von Realisationen zu überdenken. Wann ist es sinnvoll, eine Musik Note für Note wiederzugeben? Dies kritisch zu bedenken, widerspricht überhaupt nicht den Hauptideen E. Jaques-Dalcroze'. Er hat sich zeitlebens mit diesen Fragen befaßt und immer wieder neue Wege der Musikinterpretation durch Bewegung gefunden. Hervorzuheben ist auch die Rede Frank Martins "Les source du Rythme" auf dem Kongreß 1965, bei er die Gedanken seines Lehrers Jaques-Dalcroze' weitergeführt hat.
Bemerkenswerterweise wird die dogmatische Form der Übernahme von Dalcroze-Übungen am wenigstens von denen weitergeführt, die sich intensiv mit E. Jaques-Dalcroze beschäftigen. Solche mechanischen Notenwerteübungen ohne Verbindung zu künstlerischem Ausdruck sind nicht am Institut Jaques-Dalcroze in Genf zu sehen, aber bei Dogmatikern an anderem Ort, die keinen kritischen Umgang mit dem Erbe Jaques-Dalcroze' pflegen und Übungen aus einer begrenzten Phase als die einzig wahre Rhythmik E. Jaques-Dalcroze' wiedergeben. Es ist für jeden erkennbar, daß das Institut Jaques-Dalcroze in Genf seine Aufgabe nicht darin sieht, die Tradition festzuschreiben. Im Gegenteil, man kann dort die modernsten Weiterentwicklungen erleben.

 

 

Hellerau, der “Urknall”

 

Natürlich hat Jaques-Dalcroze seine Rhythmiklehre schon vor 1910 entwickelt, aber ihre Stunde hat recht eigentlich mit Hellerau geschlagen, der Periode von 1910 bis 1914. Hellerau bedeutet den “Urknall” für viele Schulgründungen – mit oder ohne den Namen Jaques-Dalcroze. Von Hellerau aus haben sich Bühnenkünstler aller Sparten aufgemacht. Nicht alle haben später bezeugt, was sie Jaques-Dalcroze verdankten, aber alle waren sie von seinem Ideenreichtum geprägt.

Der kometenhafte Aufschwung der Rhythmik in jenen Jahren hat in gewisser Hinsicht bewirkt, dass das Werk seinem Schöpfer entglitt. Je weiter es den Ruhm von Jaques-Dalcroze trug, desto grösser wurde auch die Gefahr, dass es sich in Zeit und Raum verlor. Jaques-Dalcroze hält dazu folgendes fest:

 

”Ich will ja gerne glauben, dass die Veränderungen, die mit meiner Methode vorgehen, auf den Eifer der Unterrichtenden zurückzuführen sind, bereichernd zu wirken. Sie stellen sich offenbar vor, sie bräuchten einfach die Zahl der Übungen zu erhöhen, um den Unterricht reicher zu gestalten. Wie recht hat doch aber das einleuchtende Sprichwort ‚Qui veut trop s‘enrichir, s‘appauvrit‘![Deutsch –etwas prosaischer– etwa: ‚Weniger ist manchmal mehr‘.]

 

Wir alle hier sind gewissermassen aus der gewaltigen Explosion von Hellerau hervorgegangene Planeten. Jeder hat ein leuchtenderes oder ein blasseres Teilchen des ursprünglichen. Erbes eingefangen, das sich anreichern und verwandeln konnte, wie Jaques-Dalcroze dies schildert, um von den Generationen nach ihm weitergereicht zu werden.

 

 

Hellerau


Das Besondere Helleraus läßt sich nicht ohne das zentrale Element der Musik beschreiben. Was war Hellerau? In Einzelteilen gab es alles schon irgendwo (Gartenstädte, Rhythmik, Ausdruckstanz), aber das Zusammentreffen von sozialreformerischen Ideen, dem Einsatz modernster Technik und einer Wiederbelebung der antiken Einheit der Künste machte den Ort einmalig. Wichtig für die Bedeutung Helleraus war, daß das Team die verschiedenen Künste nicht mischte, sondern sich auf ein Thema, den musikalischen Rhythmus einigte.

 

Die Verwässerung des Erbes

 

Schon 1935 hatte die Rhythmik Probleme mit ihrer Eigenständigkeit – heute sind es nicht weniger geworden! Wir sprechen ja inzwischen von “der Rhythmik” fast so vage wie von “der Musik”. Eine Visitenkarte des Herrn XY, Musiker, wird uns beispielsweise nicht darüber aufklären, ob Herr XY Jazzmusiker, klassischer Pianist, Chordirigent oder Spezialist für Elektroakustik ist. Durchaus Ähnliches gilt auch für Rhythmiker: Ihr Beruf wird bald im Sport, bald in der Musik bald im Tanz und bald in der Therapie angesiedelt, aber was deckt er eigentlich genau ab? Im romanischen und angelsächsischen Raum wird man eher über Dalcroze sprechen als über Rhythmik, weil man mit diesem Namen eine Methode in Verbindung bringt (wie zum Beispiel auch mit Namen wie Kodàly, Willems, Suzuki), genauer mit der Dalcroze-Methode, die gerne auch mit den drei pädagogischen Grundpfeilern Rhythmik - Solfège - Improvisation gleichgesetzt wird.

Aber das Namenwirrwarr genügt kaum als Erklärung für eine gewisse Verwässerung der Rhythmikmethode, vielmehr hat der Lauf der Zeit die Begriffe abgeschliffen. Im Lauf der Jahre und der Generationen hat wohl jeder, der mit Rhythmik zu tun hatte, das verinnerlicht und weitergegeben, was seiner Persönlichkeit entgegenkam, was seine Lehrer ihm mitgaben, was an Begegnungen und auch an Hilfsmitteln zu seiner Zeit gerade prägend wurde... Gewiss ist auch nicht auszuschliessen, dass falsche Auffassungen sich festsetzen und weiterwirken konnten. Jedenfalls stellen wir heute fest, dass das Erbe manchmal gerade da verarmt und verformt ist, wo wir es eigentlich am treuesten bewahrt wähnen möchten.

 

Wenn wir daher heute eine Beschreibung oder eine Definition dessen lesen, was Rhythmik bedeutet, mit oder ohne den Namen Jaques-Dalcroze, werden wir die ursprüngliche Idee zweifellos in den meisten Fällen noch erkennen, nur: Genügt das, um uns ihrer Eigenständigkeit zu versichern?

 

Da heisst es dann etwa, Rhythmik sei ein Weg, um den Menschen mit sich selber in Einklang zu bringen, und es wird dazu gerne der folgende berühmte Ausspruch von Jaques-Dalcroze zitiert: “Am Ende seiner Unterrichtszeit muss der Schüler imstande sein, anstelle von ‚ich weiss‘ zu sagen: ‚ich spüre, ich empfinde‘.” Genügt diese Definition aber, um die Rhythmik klar abzusetzen von anderen neuen Strömungen, die auch auf die Verfeinerung der Sinnenwelt, auf die Suche nach Wohlbefinden und auf die Förderung der inneren Autonomie abzielen?

Eine andere Beschreibung beschwört den berühmten Dreiklang von Zeit Raum und Intensität, der vielen als eigentlicher Nährboden von Rhythmik gilt. Und tatsächlich sind diese drei Dimensionen und ihre Interaktion für die Rhythmik von entscheidender Bedeutung. Aber sie sind es auch für den Tanz, der sich explizit darauf bezieht, und, etwas allgemeiner, auch für jegliche Art von Unterricht, Therapie oder Lehre, die auf Bewegung aufbauen. Genügt also diese Definition?

Und da ist weiter die Rede von der Beziehung zwischen Musik und Bewegung. Sie berührt zwar ein Herzstück der Rhythmik, aber es trifft sich eben, dass die meisten Tanzformen, mehr und mehr auch das moderne Theater und Musiktheater, wie überhaupt jede Form von Musik auf der Bühne, oft sehr überzeugend ebenfalls Musik und Bewegung verschmelzen. Wird daraus aber Rhythmik?

 

Meiner Ansicht nach können wir Definitionen und Stossrichtungen von Rhythmik zusammenzählen, soviel wir wollen, ihre Identität wird dadurch nicht solider. Denn die Eigenständigkeit der Rhythmik äussert sich ja nicht sosehr in ihren Zielen und Inhalten, sondern vielmehr in den Mitteln und Wegen, die zu den Zielen hinführen und ihre Inhalte ausleuchten sollen. Und damit komme ich von Mitteln und Wegen zurück zur Methode. Ich weiss, der Begriff ist heute einigermassen abgenützt, und dabei bedeutet er doch gerade “den Weg, der zu etwas hinführt”, oder “den Weg in der Richtung auf etwas hin” oder nochmals anders gesagt die Gesamtheit dessen, was unternommen wird, um zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen.


(bezieht sich auf Marie-Laure Bachmann)
Die Rhythmiklehrer in verschiedenen Ländern fürchten zwei Gefahren:
A) Verengung/Beschränkung B) Verwässerung/ Beliebigkeit. Eine Verwässerung besteht z. B. in der Gleichbewertung von "Musikerziehung durch Bewegung" mit "Bewegungserziehung durch Musik". Hier werden zwei Phänomene aus unterschiedlichen Dimensionen menschlicher Äußerungen gleichwertig nebeneinander gestellt. Dadurch entsteht additive Beliebigkeit, statt der auch bei Jaques-Dalcroze nicht zu jeder Zeit deutlich gemachten Vorrangigkeit der Musik.
Jaques-Dalcroze war jedoch im Grunde ein Vertreter der Idee einer Musikalisierung aller Künste. Wenn man dieser Idee folgt, vermeidet man Beliebigkeit, auch wenn man die Rhythmik in alle Bereiche und zu allen Zielgruppen trägt.
Ausgangspunkt zur Verwässerung war, wenn in der Rhythmik nach Jaques-Dalcroze die Musik als ein Element von vielen betrachtet wurde. Dadurch entstand diese inflationäre Ausweitung, unter der das Berufsbild der Rhythmik m. E. leidet.
"Rhythmik" verführt zu zahlreichen Assoziationen. "Jeder erfindet sich seine Rhythmik", ein großes Problem in Ausbildungsstätten; die Rhythmikstudierenden sind die heterogensten Gruppen. (... wenn sie auch sicher immer die interessantesten sind).

 

 

Methode und Methoden

 

Jaques-Dalcroze hat selber oft von Methode gesprochen, wenn auch manchmal mit einem gewissen Vorbehalt. Irgendwo schreibt er, auf seine pädagogischen Bemühungen passe eigentlich besser der Begriff der “Suche” als derjenige der “Methode”, der etwas steif klinge. Jaques-Dalcroze kommt aber wohl oder übel immer wieder auf die “Methode” zurück, wo immer er ihre Bedingungen sine qua non verteidigen will. Was ihn nicht daran hindern wird, sich bis ins hohe Alter zu freuen, wenn seine Nachfolger “neue Wege [und das heisst doch wohl neue Methoden, ML. B.] zu entdecken suchen”, weil es seiner Ansicht nach “im Wettlauf um Fortschritt und Freiheit die Traditionen sind, die uns Knüppel zwischen die Beine werfen” (1942).

 

Was er dagegen schlecht verträgt, ist die Einsicht, Rhythmik wie er sie aufgebaut habe, werde – unter eben diesem Namen oder schlimmstenfalls sogar unter seinem eigenen – gelinde gesagt “durch Unverstand verfälscht”. Und was er als Verfälschung, ja als unerträgliche Verfremdung bezeichnet, hat immer mit der Art zu tun, wie Musik in seinem bildnerischen und erzieherischen System eingesetzt wird. So stellt er 1935 fest:

 

“In Frankreich und Deutschland [inzwischen könnten wir vielleicht auch beifügen: in der Westschweiz und in der deutschsprachigen Schweiz, ML. B.] tauchen sogenannte Rhythmiklehren auf, die mit der meinigen in keiner Weise übereinstimmen. Etliche verwenden Musik nur noch als Taktuntermalung, andere ersetzen sie kurzerhand durch das Schlagzeug.”

 

Mit anderen Worten: Man entkleide die Musik systematisch einer ihrer vitalen Komponenten, des Rhythmus, oder aber man reduziere Musik im Gegenteil auf diese einzige Komponente und vernachlässige den Reichtum ihrer Melodien und Harmonien, und schon wird eine solche Lehre – seiner Meinung nach – in nichts mehr der Dalcroze-Lehre gleichen. Jaques-Dalcroze wird sich 1948 in seinen “Vermischten Notizen” einerseits zwar begeistert über das polyrhythmische Erlebnis äussern, das ein voller Maschinensaal in Hochbetrieb vermitteln kann (und das seiner Ansicht nach eigentlich jeden Musiker begeistern sollte). Anderseits lesen wir aber an anderer Stelle, dass “Rhythmus nur Musik werden kann, wenn Melodie und Harmonie ihn tragen”.

 

Im weiteren hat sich Jaques-Dalcroze früher empört über

 

“gewisse Rhythmikmethoden, die den Schwung um des Schwungs willen und den Rhythmus um des Rhythmus willen pflegen, ohne sich um die Metrik zu kümmern.”

 

Solche Methoden können seiner Meinung nach niemals erzieherisch genug wirken.

 

Weshalb diese unbeugsame Einstellung? Für Jaques-Dalcroze ist Musik ein unteilbares Ganzes, Abbild und Ausdruck des menschlichen Körpers, den sie in idealer Weise “zu bilden und zu erziehen vermag”. Gerade dank dem Zusammenklang aller ihrer Komponenten spricht Musik Leib und Seele an: belebend durch ihre rhythmische Kraft, ordnend durch die Metrik, inspirierend und richtungsweisend durch die Fülle der Melodien und Harmonien. Musik bildet eine organisch zusammengesetzte Einheit und ist in einzigartiger Weise fähig, die physischen und geistigen Rhythmen des Menschen zum Ausdruck zu bringen und zu entwickeln.

 

So weit will Jaques-Dalcroze das einfache Wort Rhythmik verstanden wissen. Fast muss man sich fragen, ob nicht gerade hier der Ursprung einer noch immer fortwirkenden Ungereimtheit zu suchen ist: Rhythmus, wie Jaques-Dalcroze ihn meint, einerseits, und Rhythmus, der eng auf eine Abfolge von Takten oder auf ein regelmässiges Pulsieren reduziert wird, andererseits! Könnte es sein, dass die Rhythmik gerade wegen ihres Namens oft zu engen Auslegungen verleitet hat, die sich zwar weit und leicht verbreitet haben, aber nur einen armen Abklatsch ihrer Möglichkeiten bedeuten? Ich fürchte, diese Frage bejahen zu müssen...

 

 

Organische Konzeption von Musik

 

Jaques-Dalcroze sagt hierzu in seiner “Kleinen Geschichte der Rhythmik”:

 

“Rhythmus ist ein lebendiges Element. Musik ist nicht einfach ein Aneinanderreihen von Klängen. Sie verlangt vom Musiker die Fähigkeit zu ordnen und aufzubauen, die von seinem inneren Gleichgewicht abhängt, von seinem Sinn für natürliche Akzentuierung der Werte und von seinem Gespür für das Variieren von Tempo und Gewicht.”

 

Diese Konzeption vom lebendigen Organismus Musik hat Jaques-Dalcroze zu seiner Methode inspiriert und ihm den Weg gezeigt, der die für den Musizierenden grundlegenden Fähigkeiten entwickeln hilft. Er fasst diese Konzeption wie folgt zusammen:

 

“Soll ein Kind musikalisch gespürig werden, muss es Musik zu hören bekommen. Alles, was in seinem Innern den Gehörsinn weckt muss mitwirken, damit Klangfülle und Klangfarben in sein Denken und Handeln eingehen können.”

 

Jaques-Dalcroze wird bis zu seinem Ende nicht müde werden, immer wieder neue Übungen vorzuschlagen, die diesen Zielen dienen. Es fällt auch hier wieder auf; dass es vorab Übungen sind (z.B. Gehen – Stehenbleiben im Wechsel, Verfeinern der Körperbewegungen, Koordination und Auflösung, Hören und Sehen reaktionsfähiger machen, Anpassen von Bewegung an den Raum usw.), die dem Einsatz der Kräfte beim Spielen eines Musikinstrumentes nachempfunden sind.

Ein Instrument spielen heisst ja in der Tat jederzeit spielen und unterbrechen können, Nuancen und Tempo des Spiels variieren, leicht von einer Bewegung zu einer andern übergehen, Haltung und Handgriffe koordinieren, gedanklich und körperlich die nächste Note, die nächste Phrase der Partitur vorausplanen.

In der Rhythmik hingegen bildet der ganze Körner das Instrument. Die improvisierte oder interpretierte Musik des Lehrers wird zur lebendigen Partitur, auf die der Schüler seine Bewegungen, sein Gehör und seine Gedanken einstellen muss!

 

“Dank der Rhythmikübungen”, sagt Jaques-Dalcroze, “erleben die Kinder nun einen engen Kontakt zur Musik. Sie spüren sie lebendig in ihrem Innern, weil ihr lebendiger Körper mit im Spiel ist.”


Das Kernstück des Dalcroze-Erbes

 

Und wie steht es nun mit der Rhythmik, die ja nicht Musikunterricht ist, sondern erzieherische Ziele bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter oder zu therapeutischen Zwecken umsetzen will?

Auch auf diese Frage gibt die “Kleine Geschichte der Rhythmik” mit einem einzigen harmlosen Sätzlein eine bedeutsame Antwort:

 

“In Hellerau habe ich erfahren können, welchen Einfluss meine Methode auf die Erziehung im allgemeinen hat.”

 

“Einfluss auf Erziehung und Entwicklung” bekommt in diesem Satz fast mehr Gewicht als “meine Methode”. Nun, mit seiner Methode hat Jaques-Dalcroze von jeher eindeutig einem obersten Ziel gedient: das Kind zur Musik hinführen; eine allgemeine Erziehungsmethode war nicht gemeint. Aber ganz unter der Hand hat das Hauptanliegen, die Förderung der Musikalität, andere wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten zutage gefördert: motorische Wendigkeit, psychomotorische Fähigkeiten, Konzentrations-vermögen, Gedächtnis, Achtsamkeit, Phantasie... Sie kennen die Liste so gut wie ich. Jaques-Dalcroze weiss auch, weshalb:

 

“(...) weil Rhythmik den inneren Rhythmus des Menschen anspricht, weil sie befreiend auf das Muskel- und das Nervensystem des Kindes einwirkt weil sie ihm hilft, Widerstände, Blockierungen und Hemmungen zu lösen, und weil sie Körpergefühl und Gedankenwelt in Einklang zu bringen vermag.”

 

Wo immer wir heute in unserer praktischen Arbeit stehen und welches unsere aktuellen Neigungen sein mögen – wenn wir auch für alles Bereichernde offen bleiben wollen, das andere Strömungen haben können, und durchaus eingedenk dessen, dass die Welt, in der wir leben, unsere ständige Bereitschaft fordert, uns auf sie einzustellen: Ich glaube, wir kommen nicht darum herum, uns auf das allerinnerste Kernstück des Dalcroze-Erbes zurückzubesinnen. Dann werden wir uns vielleicht eines Tages die Definition von Rhythmik zu unserer eigenen machen können, die uns Jaques-Dalcroze schon 1935 hinterlassen hat: Rhythmik bedeutet

 

”(...) eine besondere Methode zum Aufspüren der angeborenen natürlichen Kräfte des Schülers; Entwickeln seiner vitalen Rhythmen; Harmonisieren von Körper und Geist; Verfeinern der Sensibilität; Bewirken, dass die Schüler offener, reger, lebendiger, unternehmens-lustiger werden; Beleben ihrer Phantasie. Und all dies [und wir sind hier mitten im Herzstück der Methode, ML. B.] dank der Musik, der einzigen Kunst, die es schafft, das Individuum zu beleben und gleichzeitig die Zeichen seiner Persönlichkeit in geordneten Bahnen zum Blühen zu bringen.”

 

 

 

Schlußfolgerungen

Es war ein Ziel auch schon von Jaques-Dalcroze, daß seine Methode offiziell an Hochschulen gelehrt wird. Die Methode Jaques-Dalcroze ist eine Sache, ein Studium mit dem Abschluß staatlich diplomierter Rhythmiklehrer/innen eine andere. Zwischen beiden gab es auch historisch immer eine fruchtbare Spannung. Schon Kestenberg forderte bei der ersten staatlichen Prüfung 1925 in Berlin Kompromisse. Mit dem Sprung von dem privatrechtlich gehandhabten Lehrsystem zu einem staatlich anerkannten und geförderten Beruf kann es nicht mehr alleine um das Konzept einer einzelnen Persönlichkeit gehen. Es gibt auch keinen Beruf "Nietzsche-Philosoph" oder "Schönberg-Komponist". Es kann nur eine Ausbildung gefördert werden, die versucht, alles zu bildungspolitisch wichtigen Fragestellungen beizutragen - in unserem Fall "welche musikerzieherische Erfolge können durch Bewegung/Stimme/Improvisation erreicht werden?"; "wie läßt sich die Musikalität fördern"; "inwieweit verbessert die Rhythmik die Fähigkeiten von Instrumentalmusikern" usw. Das beantwortet unsere Methode auch durch die kritische Verarbeitung anderer Methoden (z. B. zahlreiche neue Bewegungs- und musikpädagogische Systeme, Einbeziehung moderner und außereuropäischer Musikstile).
Fruchtbares Erben setzt voraus, sich an heutigen Fragen zu orientieren. Heute ist die Bewegung als Zugang zur Musik selbstverständlicher. (Veränderungen der Hör- und Sehgewohnheiten spielen eine Rolle, Videoclips, multimediale Performance-Kunst), andererseits ist die künstlerische Eigenaktivität und das motorische Geschick der Kinder schwächer entwickelt. Das erfordert um so stärker ein Verfahren, wie die Rhythmik.
Wenn wir die Öffentlichkeit mit internen Differenzen verschonen und uns auf das Wesentliche unseres Erbes besinnen, könnten die Ideen von Jaques- Dalcroze zu der großen Wiederentdeckung in der Musikpädagogik der nächsten Jahre werden.
Wiederentdeckung von Ideen, die überhaupt nicht verschwunden waren, wie das? Gerade die Tatsache, daß die Rhythmik im deutschsprachigen Raum immer ihren Platz hatte, daß sie institutionalisiert wurde, hat mitgeholfen, daß wir in unserer Öffentlichkeitsdarstellung ein wenig sorglos geworden sind. Wenn man aus den letzten Jahrzehnten Kritik an der Rhythmik sammelt, wird es zum größten Problem, daß die Rhythmik sehr wenig von der Musikpädagogik und Musikwissenschaft wahrgenommen wird. Sie wird von uns Rhythmikern so unterschiedlich dargestellt, daß sich Kritiker, potentielle Förderer, nach einiger Zeit zurückziehen und lieber etwas anderes kritisieren.
Eine unserer Traditionen, von denen wir uns verabschieden müssen, ist die Ansicht, daß man Rhythmik nur erleben könne, erst dann könne man mitreden. Sagen sie das einem Musikschulleiter oder einem Zeitungskritiker! Dieses Argument geht auf das Weltbild zu Beginn des Jahrhunderts zurück, auf den "Unsagbarkeitstopos" der Spätromantik. Etwa wenn der Lebensphilosoph Wilhelm Dilthey schrieb "Der Zusammenhang der geistigen Welt müsse erlebt werden und wird nicht mit wissenschaftlichen Methoden erkannt". Diesen  überhöhenden Empirismus hat schon Gustave Flaubert verspottet: "Ich muß kein Spiegelei in der Pfanne sein, um ein Spiegelei in der Pfanne zu beschreiben". Das Erlebnis der Rhythmik ist wichtig, jedoch kann man Vorgänge und Ziele auch gut beschreiben, (wenn wir etwa an Marie Laure Bachmanns Buch denken).
Der Rhythmus oder die Verbindung Musik und Körper ist für die Musikpädagogik schon längst wiederentdeckt worden. Nur — es gab alleine in den letzten Jahren mehrere Kongresse zum Thema "Rhythmus" oder "Musik und Körper", bei denen kein einziger von uns überhaupt als Referent geladen war. Nicht aus Angst vor uns — wir wurden einfach vergessen.
Die Hauptfrage scheint, was es bedeutet, wenn eine von einer Persönlichkeit geprägte Methode durch ihren Erfolg zu einer eigenen Disziplin der Musikpädagogik wird. Diese Frage ist in diesem Rahmen wichtiger als die konzeptionellen Unterschiede einzelner Schulen oder Personalstile. Durch die Anerkennung kann es nicht mehr um die Konzepte einer einzigen Persönlichkeit gehen.
Die Absolventen dieser staatlich subventionierten Ausbildungen müssen selbstverständlich von möglichst vielen Methoden wissen, die zu diesem Arbeitsfeld beitragen. Andererseits müßte eine Ausbildung, die Rhythmik heißt, alle diese Methoden unter ihrer eigenen Sichtweise verarbeiten und überprüfen.
Die Rhythmik muß sich jedoch auch selbst überprüfen. Insbesondere müßten alle die Bereiche überprüft werden, die die Rhythmik in den letzten Jahrzehnten wie ein Schwamm aufgesogen hat. Zur Rhythmik gehören nicht automatisch reine Spiel-, reine Sensibilisierungs-, reine gruppendynamische Aufgaben. Die Rhythmik darf sich solange in alle Bereiche vorwagen, wie sie ihre Identität "Musikerziehung durch Bewegung" bewahrt. Wenn ich das einmal am Beispiel meiner Hochschule verdeutlichen darf, man könnte auch andere nennen, in Hannover gibt es eine Musikpädagogikabteilung, die einer modernen, körperorientierten Musikerziehung aufgeschlossen ist, eine Tanzabteilung, in der nicht nur äußerlich gearbeitet wird, wie im Tanz auf den Jaques-Dalcroze reagierte, eine Schauspielabteilung, die auch improvisatorische und spielerische Elemente pflegt usw. Wir Rhythmiker brauchen keine andere Abteilung zu beglücken mit Ideen einer Ganzheitlichkeit oder Kreativität. Was die anderen jedoch von uns möchten, ist unsere besondere Form der Musikpädagogik, die ihnen in ihrem Beruf nutzt, eine über Jahrzehnte gewachsene Musikpädagogik durch Bewegung. Da sich heute schon viele Verfahren anmelden, die auf einzelnen ehemaligen Rhythmikgebieten weit entwickelt sind: Die Psychomotorik, die verschiedenen Körperübungsverfahren, wie Feldenkrais, Alexander, Rolfing usw.; Improvisationskonzepte, Musiktherapieverfahren, Elementare Musikpädagogik, die angelsächsischen erlebnisorientierten Konzepte, wie "comprehensive music education" oder "appreciating music" ... , verstärkt das die Notwendigkeit, daß wir uns auf unsere zentrale Qualifikation, die musikalische Bewegung, besinnen und damit die Öffentlichkeit überzeugen. Das ist kein einfacher Prozeß, aber um es sportlich auszudrücken, heißt das: Abspecken, um dann neue Muskeln aufzubauen!


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Symposium in Biel 6./7. 12. 1996: Die Identität der Rhythmik im Spannungsfeld der bildungspolitischen Diskussion. Die Texte von Marie-Laure Bachmann (kursiv) und Reinhard Ring (Standardschrift) wurden abwechselnd vorgetragen.