Claude Bommeli
Das Kontinuitätsprinzip in Zeit und Raum
Hellerau 1992
Claude Bommeli
Das Leben ist ein Kontinuum, alles Lebende ist
kontinuierlich. Die Flüsse, die dem Meer zueilen, wo sich das Wasser
ebenfalls fortdauernd bewegt und zuletzt als Dampf dem Himmel entgegen
schwebt, um als Niederschlag seinen Kreislauf wiederaufzunehmen, die
Flüsse bilden ein Kontinuum.
Die Luft, auch stets in Bewegung, - ist auch ein
Kontinuum.
Die Erde, über, neben, unter dem Wasser, ist auch ein
Kontinuum.
Kontinuierlich ist auch unser Körper, ja alle lebende
Körper, man denke nur an den Blutkreislauf, an das Nervensystem, an die
Haut, usw.
Alles was die Kontinuität respektiert, ist
lebensfördernd. Alles, was die Kontinuität zerstört, ist
lebensfeindlich (das Wort "scheiden" ist dem hebräischen
"shaitan" verwandt, welches "Teufel" bzw.
"Zerstörer" bedeutet.)
Die Geschichte ist auch, als Darstellung des
Geschehens in einem bestimmten Zeitraum, ein Kontinuum und als solches
zu verstehen, als nicht statisch, sondern dynamisch. Wie ein Strom, der
zwar unaufhaltbar fließt, in dem sich aber stets neue Landschaften
spiegeln. Wo ist eigentlich die Quelle? Wo das Ziel?... Alles bewegt
sich ja! Dieses Werden und Vergehen scheint ein ewiger Kreislauf zu
sein, und doch sieht jeder Neubeginn wieder anders aus!...
In diesem Kontinuum sind hin und wieder Höhepunkte, die
in einem begrenzten Zeitabschnitt betrachtet, auch als Beginn gelten
können. Höhepunkte sind sie aber nur, weil sie auf festem, gesundem
Grunde stehen. Aber wie kam dieser feste Grund zustande? - Wohl aus den,
bisher unbemerkten (weil bisher selbstverständlich) Strömungen, die,
von Glanzpunkten der vorangehenden Epoche (im Falle Helleraus wäre es
das 19. Jahrhundert, vielleicht zum Teil des 18. Jahrhunderts) lange
überdeckt, nun das Bedürfnis verspüren, wieder an die frische Luft
der Gipfel zu gelangen.
Nicht umsonst erwähnt der Text der Fragestellung den
"Geist des Jugendstils und Expressionismus" und, Wolf Dohrn
zitierend, "die Wiedergewinnung des Rhythmus in der
Erziehung, in der Kunst und im Leben".
Was ist wohl hier mit "Wiedergewinnung"
gemeint?... und, wichtiger noch, mit diesem "wiedergewonnenen
Rhythmus? ... Der Rhythmus war vorher schon vorhanden. - Wie konnte man
ihn für unsere neuen Zwecke gewinnen?
Er konnte uns, glaube ich, nur dann dienen, wenn er es
seiner eigenen Beschaffenheit gemäß machen konnte. Seine eigene
Beschaffenheit ist aber nichts anderes als seine Natur... Die Natur des
Rhythmus aber auch der Rhythmus in der Natur, auch in der Natur des
Menschen.
Der Rhythmus als Urelement, befreit von
Zeiterscheinungen wie etwa Mode, Stil des Jahres, Regeln der zur Zeit
herrschenden Ästhetik usw., wird uns helfen, in der Erziehung eine
echte Freiheit zu erwirken.
Wie in der natürlichen Darstellung der Pflanzen in den
Dekorationen des Jugendstils (als Revolte gegen die herrschende
Stilisierung), wurden damals den von einengender Bekleidung befreiten
Körper seine natürlichen Bewegungen wieder ermöglicht (oft allerdings
als Nachahmung der altgriechischen Kunst).
Das Kontinuitätsprinzip in Zeit und Raum
Es erfolgt eine "Wiederbefreiung" der Natur in
der Erziehung des Körpers, des Geistes, der Psyche.
Die befreiende Erziehung des Körpers
brauche ich in diesem Gremium kaum zu erwähnen. Lassen
wir vielleicht nur die vertrauten Gestalten von Jaques-Dalcroze, von
Isadora Duncan, vom Leutnant Müller (den Dalcroze sehr schätzte), mit
seiner schwedischen Gymnastik, an unseren Augen vorbeiziehen.
Die Erziehung des Geistes wurde von den damaligen
"Pilotschulen" der aktiven Pädagogik angebahnt. Man gedenke
hier der Fröbelschulen, der "École J.J.Rousseau" der Schulen
Montessori, Decroly und vieler anderen.
Gestatten Sie mir, hier einen kleinen Kommentar
einzuschieben:
In die "Ecole Rousseau", damals "Maison
des Petits" (Haus der Kleinen) genannt, in Genf, schickte
Jaques-Dalcroze seinen eigenen Sohn Gabriel in dieselbe Klasse wie meine
ältere Schwester. Jaques Dalcroze kam oft zu Besuch und gab auch hier
und da eine Rhythmikstunde. Auch komponierte er das Lied der Schule:
"Oh Qu'il fait von dans la Maison des Petits", das wir letzten
bei einem Schülertreffen noch gesungen haben. Ein paar Jahre nach
Gabriel war ich dort auch Schülerin. Meine Mitschülerin
und Busenfreundin war Germaine Duparc, die später, als Nachfolgerin von
Mademoiselles Audemars et Laffendel, Vorsteherin der Schule wurde.
Unsere bescheidene "Maison des Petits" wurde Übungsschule zum
"Institut international des Sciences de l'Education" der
Universität Genf. Germaine Duparc war dort Dozentin, bleib aber weiter,
im Geist und vor allem im Herzen, die verständnisvolle, gütige "Maìtresse
des Petits".
Die Erziehung der Seele
(Sofern man zwei so klangverschiedene Begriffe in einem
Atemzug erwähnen darf) verdanken wir vor allem den
"Wiederentdeckern" des Unbewußten, dem guten Dr. Freud und
seinem Thronfolger C.G. Jung. Das Unbewußte, diese unerschöpfliche,
stets erneuernde, allen Menschen zugängliche Quelle seelischer Kräfte,
ist ein solches Kontinuum, daß es die Grenze zu seinem Gegenpartner,
dem Bewußtsein, ständig überspült.
Unter den repräsentativen Figuren der neuen
Erziehungsmethoden waren viele persönliche Freunde von Jaques-Dalcroze.
Vielen war die Schule in Hellerau bereits bekannt, ob sie sie besucht
hatten, oder ob sie dort mitgearbeitet oder gar dort ausgebildet worden
waren.
An das Hellerauprojekt waren, wie Sie schon wissen,
nicht nur Vertreter der Grunderziehung interessiert, sondern bereits
auch Pädagogen verschiedener Sparten (Musik, Tanz, Theater), ferner
auch markante Persönlichkeiten aus allen Gebieten der Kunst, Musiker,
Maler, Architekten, Tänzer, Schauspieler, Schriftsteller, und dazu
(für die Zukunft der Rhythmik als Therapeutik sehr wichtig), mehrere
Ärzte.
Aus der ganzen Welt strömten diese Leute nach Hellerau,
und damit wurde das Kontinuum auch im Raum gewährleistet.
Junge und weniger junge Menschen trafen in der
Bildungsanstalt zusammen, wurden dort nicht nur ausgebildet, sondern
hatten die Möglichkeit, weltweite Bände der Freundschaft herzustellen,
die viele Jahre über das Studium hinaus weiterbestanden. Später
besuchte man sich gegenseitig, tauschte Erfahrungen aus, denn in jedem
Lande forderte die Praxis eine Anpassung der Methode, sozusagen eine
Lokalfärbung, solle der wichtigen Empfehlung von Jaques-Dalcroze
nachgelebt werden. "Adaptez la méthode á lélève" (paßt
die Methode dem Schüler an). So bildete sich allmählich, wie ein
feines, lichtes Gewebe auf weiter Flur, die große Familie der
Rhythmiker.
Es kam sogar vor, daß frischgebackene Rhythmiklehrer
Mitschüler anderer Nationalitäten in deren Land begleiteten und ihre
erste Praxis auf fremdem Boden ausübten. Ähnliches geschah, als Fürst
Volkonsky, "ein überzeugter Internationalist" (wie ihn Vera
Alecandovna bezeichnet), auf Wunsch Dalcrozens eine bunte Gruppe neuer
Lehrer/innen aus Hellerau nach St. Petersburg mitnahm, um in Rußland
die Rhythmik zu verbreiten. Der Gruppe gehörten an: Charlotte Pfeiffer
aus Deutschland, Theodore Appia aus der Schweiz, Stephan Wissotsky aus
Polen, N. Bagenov und Vera Griner aus Rußland.
Ich muß hier eine kleine Erklärung einschieben: Diese
Einzelheiten erfuhr ich von Vera Alecandrovna Griner, eine russische
Rhythmikerin, die in 1913 in Hellerau diplomierte. Sie starb im letzten
Juni im Alter von 102 Jahren. Sie war eine liebe Freundin von mir und
ich habe sie oft in Moskau besucht, wo sie wohnte. Sie hat mir
aufgetragen, ihre Memoiren aus dem russischen zu übersetzen, was ich
gerade fertig ausgeführt habe.
Ich hoffe, sie werden bald erscheinen. Aus diesem
Memoiren möchte ich aber manches schon zitieren.
Gleich will ich jedoch über eine kleine, aber
erfreuliche Begebenheit berichten: Volkonsky verschaffte damals Vera
Griner eine Stelle als Rhythmiklehrerin am Medizininstitut für Frauen
(d.h. wo die Frauen Medizin studieren konnten). Dieses Institut war im
vorigen Jahrhundert vom Komponisten A. Borodin gegründet worden, der
selber Arzt war. Ich habe solche Freude an diesem musik-rhythmischen
Kontinuum, daß ich es überall erwähne.
Vom Winde in die Weite getragen, können die Samen eines
Baumes, auch wenn er verschüttet oder gefällt werden sollte, auf neuem
Boden, vielleicht in neuer Form, sein Leben fortsetzen. So verhielt es
sich mit Hellerau, als diese Quelle so schöner Ideen und Ideale von
zwei Weltkriegen und ihren Begleiterscheinungen verschüttet wurde.
Was hier weiter geschah, darüber sprechen andere
Referenten. Ich weiß nur, daß es, nachdem der Sturm einigermaßen
nachgelassen hatte, viele Jahre, sogar Jahrzehnte dauerte, bis die
Verbindungen wiederaufgenommen werden konnten. Jaques-Dalcroze setzte
seine Tätigkeit in seiner Heimat fort, in dem von ihm gegründeten
"Institut Jaques-Dalcroze" (wo ich von ihm persönlich
ausgebildet wurde). Einzelne ausländische Schüler wurden dort
ausgebildet und blieben mit dem Institut in Verbindung. Da und dort
entstanden wieder Bildungszentren. Auch begegnete man sich in den
Internationalen Sommerkursen einzelner Länder. Aber erst anfangs der
50er Jahre trafen wir im größeren Maße mit den Kollegen zusammen, von
denen wir praktisch ein halbes Jahrhundert lang getrennt waren.
Die erste "Wiederbegegnung" war für viele
eine Erschütterung. Das sollte also auch Rhythmik sein, sah aber so
anders aus als unsere, in Ruhe und Frieden entwickelte Arbeit!
Schuld daran war das inzwischen Erlebte, das hüben und
drüben so verschieden gewesen. Während für geschonte Gegenden die
Rhythmik weitgehend als kulturelle (allenfalls kulturell-pädagogische)
Angelegenheit angesehen wurde, war sie für schwer geprüfte Länder
eine Frage des kulturellen Überlebens, ja manchmal das Überlebens
schlechthin. Wir hörten damals, wie manchen Kollegen unter ganz
schweren Bedingungen ihre Arbeit fortgeführt hatten. Ich habe mir sogar
sagen lassen, daß extrem verzweifelte Situationen dadurch überbrückt
werden konnten, daß man, sein Ideal fest im Auge behaltend, sich selber
die Mittel angedeihen ließ, mit denen man früher schwachen Kindern
geholfen hatte.
Obwohl ich es gerne täte, darf ich hier nicht in
Einzelheiten gehen, auch keine Namen nennen, weil die hier erwähnten
Leute (meist Schüler von Hellerauschülern) Gott sei Dank noch am Leben
sind, und sich vielleicht nicht so gern an diese schweren Zeiten
erinnern möchten. Was aber die therapeutische Rhythmik dadurch an
Bedeutung gewann, wird niemand in Zweifel stellen.
Jedes Land hatte eine andere, ihn wichtig erscheinende
Seite der Rhythmik besonders stark entwickelt, so daß wir auseinander
gestrebt waren. Erst nach vielen Auseinandersetzungen, gemeinsamen
Experimenten, uferlosen Diskussionen, gelang es, in diesem Urwald eine
Richtung auszumachen, die wahrscheinlich zum gemeinsamen Ziel führen
konnte,... zum Ziel, das in Hellerau gesetzt worden, in Genf von
Jaques-Dalcroze weiterentwickelt, an mancher Stelle der weiten Welt von
Nachfolgern in so mannigfaltiger Färbung fortgeführt wurde.
Genau darauf kommt es ja an: Wir sollen einen Zweck
verfolgen, aber selbst untereinander verschieden sein und bleiben, sonst
können wir einander nicht bereichern. Lassen wir Fürst Volkonsky
darüber sprechen. In seinem Brief an Vera Griner (15. Mai 1915) sagte
er:
"Jedes Glied unserer Korporation soll sich allen
anderen nahe fühlen und seiner Einmaligkeit bewußt werden
innerhalb eines Zusammenschlusses um ein gemeinsames Ziel".
"Die Verbindung von Selbständigkeit mit Sinn für
Kollektivität ist unser wichtigstes Ziel". So weit Volkonsky
Was die Selbständigkeit anbelangt, vergessen wir nicht,
daß die Entwicklung der Persönlichkeit "le développement de la
personalité" (heute sagt mach vielleicht: Identität), ihre
Kräftigung bedingt. Das war ohnehin von je her eines der Grundanliegen
der Rhythmik. Nur eine stark verwurzelte Persönlichkeit kann bei dem
Anderen ein "Anderssein" ertragen, denn dann wird dieses
"Anderssein" nicht als Bedrohung empfunden, sondern als
Möglichkeit einer gegenseitigen Bereicherung.
Der Raum in seiner Vielfalt (viele Länder), bedingt
eine Verästelung der Anwendung der Grundprinzipien der Rhythmik.
Die Zeit, indem sie uns immer wieder neue
Anforderungen stellt, verlangt auch ein breites Spektrum der
Möglichkeiten in der Praxis ... der gleichen Grund- prinzipien.
Wohlan! Liebe Freunde. Die Geschichte Helleraus begann
am Anfang unseres Jahrhunderts, sie setzte sich, wie ich es geschildert
habe, in schillernder Vielfalt fort.
Wo und Wann endete sie? Nahm sie überhaupt jemals ein
Ende?