Beate Robie - 
Rhythmiksymposion in Weimar am 9. +10. Oktober 2004 

 

„Musik ist Bewegung ist Musik“
Wahrnehmung und Bewegung im musikpädagogischen Kontext

Mit diesem hoch aktuellen Thema angesichts der Forderungen nach handlungsorientiertem, bewegtem und sinnlichem Lernen brachte die Rhythmik ihre fachspezifischen Qualitäten erneut in die öffentliche Wahrnehmung. Drei tragende Säulen der Rhythmik (Musik, Bewegung, Wahrnehmung) wurden in Theorie und Praxis beleuchtet und in ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse untersucht.

Unter der Lupe
Kritiker der Rhythmik bemängeln, sie sei ein erfahrungsbasiertes Fach ohne theoretisch-wissenschaftliche Begründung ihrer Vorgehensweisen. Dies erkennend, konzipierte Prof. Marianne Steffen-Wittek (Weimar) in diesem Symposium wissenschaftliche Akzente: Sie lud neben namhaften RhythmikerInnen auch fachfremde ReferentInnen ein, so dass das Fach zusätzlich Impulse und Unterstützung aus anderen Disziplinen bekam.
So ist beispielsweise das mentale Training, das Arbeiten mit Sensomotorik und Vorstellungsbildern in der Bewegungs- und Musikpädagogik gängige Praxis. Weitere Unterstützung bekommen diese Ansätze nun von unerwarteter Seite - Dr. Franz Mechsner vom Institut für Arbeitsphysiologie (Dortmund) erläuterte diverse Forschungsergebnisse. 
„„Jeden Morgen geht die Sonne auf“ möchte die Kleine auf der Blockflöte spielen. Doch es hört sich grauslich unbeholfen an, so verkrampft stolpern ihre Finger dahin. „Was ist denn das für ein Lied“ fragt die Lehrerin. „Ein Sonnenlied“ antwortet das Kind. „Ja, dann spiel doch diesmal für die Sonne.“ Und tatsächlich klingt das Lied jetzt besser.“ 
Warum ist das so? Wieso verbessert ein Vorstellungsbild das Spiel?
Das Max-Planck-Institut entwickelte eine Versuchsanordnung zur Frage, wie komplizierte Bewegungskoordinationen gesteuert werden. Die Probanden sollten mit beiden Händen zwei unsichtbare Kurbeln unter dem Tisch drehen. Die Kurbeln steuerten zwei sichtbar kreisende Zeiger und die Aufgabe war, diese Zeiger gleich schnell kreisen zu lassen. Die Krux dabei: der linke Zeiger kreiste so schnell wie die linke Kurbel (Hand), der andere Zeiger bewegte sich schneller als die Kurbel bzw. Hand. Die Versuchspersonen mussten die Hände in einem Tempoverhältnis von 4:3 bewegen, um die Zeiger gleich kreisen zu lassen - eine Koordinationsleistung, die Ungeübten kaum möglich ist. Trotzdem gelang ihnen das geforderte Bewegungsmuster recht gut, indem sie nur auf die Zeiger achteten und dabei ihre Hände "vergaßen". 
Das Fazit: Bewegungskoordination gelingt durch leichte Muster der Wahrnehmung (bzw. deren mentale Vorstellung) und nicht durch das Einprogrammieren motorischer Muster. Es gilt also, einfache „Bilder“ der – visuellen, akustischen, kinästhetischen – Wahrnehmung zu finden, um die Koordination zu steuern. 

Die Rolle der Bewegung für die Rezeption stand im Mittelpunkt der sich ergänzenden Vorträge von Prof. Dr. Eva Bannmüller (Ludwigsburg) und Dr. Furgber (Markdorf).
Furgber ging in ihrer Doktorarbeit von der These „Bewegung zu Musik differenziert die auditive Wahrnehmung von Grundschulkindern“ aus. Ihre Ergebnisse besagen, dass emotionales Hören stark von der Bewegung profitiert, das strukturelle Hören jedoch weniger. 
Kinder bewegen sich ungeachtet der Geschlechtszugehörigkeit gerne zur Musik und es „scheint das „Sich-zur-Musik-bewegen-dürfen“ in hohem Maße dazu beizutragen, dass die Kinder die Musik lieber mögen“ – dieses Ergebnis ermittelte sie für Stücke von Beethoven, Truhlar und Saint-Saëns. Jedoch verhalf die Bewegung in einigen Fällen nicht zur Verbesserung des analytischen Hörens (z.B.in punkto Lautstärkenverlauf, Instrumentenerkennung).
Vordergründig scheint dies zunächst einen Teil des Selbstverständnisses der Rhythmik in Frage zu stellen. Allerdings wissen Unterrichtspraktiker, wieviel subjektiv Bedeutsames durch Bewegung in den Vordergrund tritt. Aus diesem Grund wird in der Rhythmik gemäß einer ihrer pädagogischen Leitlinien (erleben – erkennen – benennen) der Transfer im Unterricht geleistet. Wie dies in der Untersuchung gehandhabt wurde, konnte wegen der knappen Zeit nicht erläutert werden. 
Als Konsequenz ihrer Ergebnisse fordert Furgber für den Musikunterricht in der Grundschule u.a. mehr Handlungsorientierung und Körperlichkeit sowie mehr prozessorientiertes Vorgehen an Stelle von Repräsentation - Forderungen, die im Rhythmikunterricht seit langem verwirklicht werden.
Bannmüller wünscht in ähnlicher Weise eine „produktive Sinnlichkeit“, denn „ein Kunstwerk kann ... nicht wie eine fertige Wahrnehmungsbahn betreten und durchlaufen werden.“ Der Zugang solle jenseits von verkrusteten Wahrnehmungen geschehen und Bewegung spiele die entscheidende Rolle, um die nötige Wahrnehmungsdifferenzierung zu erreichen. 

Wahrnehmen.....
In den Workshops und Foren zeigte sich, dass die Rhythmik einen zeitgemäßen, phantasievollen und großen Praxis-Fundus bereit hält. 
Fachtypisch wurden rhythmische Raffinessen über einen körper-sinnlichen Zugang erarbeitet. Prof. Steffen-Wittek verband den Ansatz „zeige, was du hörst“ mit den technischen Möglichkeiten einer groove-Box. So aufbereitet, können auch hiphop-begeisterte Jugendliche angesprochen werden und einen aktiven Zugang zu der von ihnen bevorzugten Musik bekommen. Barbara Schultze (Remscheid) führte mit elektrisierender Energie in eine metrische Vielschichtigkeit und Eve Gubler (Potsdam) deklinierte die wahrnehmungsorientierten Herangehensweisen durch: der 5/4-Takt wurde akustisch, visuell, mit dem Tast- und dem Bewegungssinn erschlossen. Prof. Reinhard Ring (Hannover) bot Konzepte und Übungen zum Einstieg in Rhythmen anderer Kulturen an.

„Apalys“ nimmt auch wahr – und zwar die Beanspruchungen der Wirbelsäule bei Musikern. Dieses Diagnoseverfahren bestimmt die Beanspruchungswerte sogar instrumentenspezifisch. Dies ist notwendig, um eine maßgeschneiderte Prophylaxe entwickeln zu können, denn: Sport allgemein genügt nicht als Ausgleich und Prävention. Eine Untersuchung an der Musikhochschule „Franz Liszt“ ergab, dass die Häufigkeit des Sporttreibens positiv mit dem Rückgang allgemeiner Beschwerden am Stütz- und Bewegungsapparat korreliert. Es wurden jedoch keine Auswirkungen auf instrumentenspezifische Beschwerden beobachtet. Gemäß dieser Erkenntnis stellte Prof. Dr. Egbert Seidel das Weimarer Präventionsmodell für MusikerInnen vor und Grazyna Przbylska-Angermann schilderte detailliert die Einsatzmöglichkeiten der Rhythmik in der Prophylaxe. Über die nötigen Umlernvorgänge bei körperlichen Problemen referierte Prof. Dr. Loosch (Erfurt). 

....und spüren
Dorothea Weise (Trossingen) führte in die subjektiven Aspekte der Wahrnehmung hinein. Sie erarbeitete mit den Teilnehmern vier Modelle der Bewegungsreaktion auf Berührungsreize: die unmittelbare, verzögerte, antizipierte oder verweigerte Reaktion. Allein durch diese Modelle entfaltete sich in den Improvisierenden deutlich eine subjektive Bedeutung der Berührung – der schlichte Sinnesreiz wurde über die gesteigerte Eigenwahrnehmung zum persönlichen Erlebnis. Übertragen auf Schönbergs „Sechs kleine Klavierstücke“ entstanden Improvisationen von hoher Aussagekraft - durch eine Bewegung, die von der Musik inspiriert, aber nicht diktiert wurde. Hier wurde ein Durchtönen der Musik durch die Persönlichkeit in die Bewegung hinein spürbar. 
Und „Resonanz“ konnte im Bewegenden stattfinden – ein Vorgang, den Prof. Gutjahr (Trossingen) für unabdingbar in einem individuellen pädagogischen Prozess hält. In ihrem Eröffnungsvortrag führte sie weiter aus, dass nicht alleine die Arbeit an der Physis - an der funktionalen Bewegung- genüge, um in ein adäquates Wechselspiel von Musik und Bewegung zu kommen; vielmehr müsse die immaterielle Ebene beider Medien intensiv einbezogen werden. Es gelte, die Auslöser für die Bewegung zu reflektieren und an einer dialogisierenden, gewollten, auch korrigierten Bewegung zu arbeiten. 
Den gleichen Themenkomplex „subjektive Wahrnehmung“ erhellten die Ausführungen von Prof. Schwartz (Berlin) zur Zeitgestaltung und -wahrnehmung in Neuer Musik. Schwartz betrachtete diese Konzepte quasi vom Hörer aus – sie informierte über die historisch gewachsenen Bedingungen unserer Rezeptionsweisen, über wahrnehmungspsychologische Determinanten und sensibilisierte für die Phänomene des subjektiven Zeitempfindens.

Weitere workshops thematisierten die Arbeit mit Zielgruppen und anderen Künsten. Prof. Vliex (Trossingen) erläuterte ihr Konzept „Rhythmicals“ für Kinder und Jugendliche und zeigte, wie Inhalte der Rhythmik zu einem aufführungsreifen Produkt gedeihen können. Urte Gossmann (Berlin) stellte ihre Arbeit mit „Klassik tanzen - Rhythmik mit älteren Menschen“ vor. Christine Engel (Hamburg) verband „Musik, Bewegung und Bildende Kunst“ und Hartwig Maag (Münster) ließ die „Rhythmik im anderen Licht“ (Schwarzlicht) erscheinen. 
Prof. Gutjahr sensibilisierte für die Bedeutung von Zeichen in Kommunikation und Improvisation, Frau Przbylska-Angermann beleuchtete die Wechselwirkung von interaktiver Stimm- und Bewegungsimprovisation und Christine Straumer untersuchte Zusammenhänge zwischen Tongebung und Bewegungsqualität. Schließlich gab Prof. Ring einen Überblick über Entwicklungen in der internationalen Rhythmikszene. 

Vor dem Opernglas
Eine hoch konzentrierte Dosis an sinnlichen Eindrücken goutierte das Publikum beim reichhaltigen Bühnenprogramm im Belvedere-Theater. Studierende präsentierten dort die künstlerische Seite der Rhythmik in all ihrer Vielfalt. Da standen Witz und Ernst nebeneinander, abstrakte und erzählende Choreographien, strenge und verspielte Bewegungssprachen - mal eng, mal locker, aber immer deutlich mit der Musik verknüpft. Nach wie vor steht Musik des 20. Jahrhunderts an zentraler Stelle – und in der speziellen künstlerischen Bearbeitung liegt ein noch ungehobener Schatz, insbesondere für die Vermittlung neuer Musik. 

In der Gesamtschau offenbart sich die Diskrepanz zwischen der möglichen Bedeutung des Fachs und seiner unbefriedigenden realen bildungspolitischen Situation. Um so mehr ist dem Initiator Prof. Dr. Eckart Lange (Institut für Musikpädagogik und Musiktheorie der Hochschule für Musik Franz LISZT, Weimar) zu danken, dass er dieses Symposion anregte. Der Arbeitskreis Rhythmik in der Hochschule übernahm wesentliche Aufgaben, so dass schließlich rund 100 Teilnehmer vom geballten Sachverstand profitieren konnten.

Die nächsten Aufgaben sind klar zu erkennen. Prüfte die Rhythmik in diesem Symposium ihre Relevanz eher vor Fachpublikum, sollte sie sich, von innen gestärkt, mit der gleichen Energie und Fantasie um Präsenz auf der bildungspolitischen Ebene bemühen.